Perseus
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Bis
zum Frühstück gehört die Terrasse uneingeschränkt den Katzen.
Genaugenommen einer zwölfohrigen Familie. Da turnt ein Vierlingswurf
ununterscheidbarer Schwarzweiß-Tiger auf Boden, Tischen und Stühlen,
liefert einander Balgegefechte und blinzelt immer wieder zum Hoteleingang,
aus dem bald der erste Gast mit seinem Tablett auftauchen muss. Der
Blick auf das tiefblaue Meer, das zwischen rotvioletten Bougainvilae
und blassgrünen Palmwedeln zu sehen ist, besitzt für sie keinerlei Attraktivität.
Sie sind höchstens vier Monate alt und müssen noch oft ihren Welpenhunger
stillen, ehe sie die Größe und Erwachsenheit des Muttertiers erreichen
werden, einer schwarzweißen, bereits wieder trächtigen Katze, die sich
auf dem Terrassenboden sonnt und ihr pralles Gesäuge zur Schau stellt.
Der Duft aus den ersten Kaffeetassen ist das Signal mit Gebalge und
Faulenzerei aufzuhören und sich dem Frühstück zuzuwenden. "Nein, geh
weg, du hast schon. Jetzt kommt die dran. Da schau, wie dumm der Große
ist, der lässt sich von den Kleinen alles wegessen." Das erzieherische
Gehabe der Leute an den Tischen geht mir auf die Nerven.
Der "Große" ist Perseus - ich habe ihn für mich so genannt. Er betritt
das Frühstücksgelände stets zu einem selbstgewählten Zeitpunkt. Sobald
er auf der Bildfläche erscheint, laufen die Kleinen mit steil aufgerichteten
Schwänzchens auf ihn zu und reiben sich an seinem roten Tigerfell. Er
hält dazu im Heranschreiten kurz inne, setzt aber nach einigen Sekunden
seinen Weg fort.
Ruhig
inspiziert er alle Tische. Wird ihm etwas zugeworfen und ein Junges
oder die Katzenmutter erheben Anspruch darauf, lässt er ihnen den Vortritt.
Dass man ihn dafür "dumm" schilt, ignoriert er. Überhaupt lässt die
Katzen das menschliche Getue kalt. Es wird nicht geschmeichelt und nicht
gebettelt. Was von den Mahlzeiten abfällt, wird mit Selbstverständlichkeit
verzehrt. Es ist Erntehalten in einem eroberten und eisern behaupteten
Revier.
Jemand von den Hotelgästen stellt die Theorie auf, Perseus werde "zu
Hause" so sehr gefüttert, dass er nie Hunger habe. Von da an bekommt
er von niemandem mehr einen Happen, auch wenn er ganz allein an einem
der Tische seine ruhige Erwartungshaltung einnimmt. Er wartet stets
nur ein paar Augenblicke. Fällt nichts für ihn ab, zieht er würdevoll
weiter. Deshalb erstaunt es mich, als er einmal auf den Sessel neben
mir klettert. Er tut es ohne jede Hast und blickt gelassen an der duftenden
Wurst auf meinem Teller vorbei. Der Richtung folgend, in die sein Kopf
weist, bemerke ich, wie sich zwei große Hunde der Terrasse nähern. Sie
gehen sofort auf die Katzenwelpen und das trächtige Muttertier los,
die sich jetzt hinter Perseus Sessel zurückziehen und buckeln und fauchen.
Perseus buckelt und faucht nicht. Er liegt ruhig und unbeweglich da
und wirft dem älteren der beiden riesigen Dalmatiner einen Blick zu,
worauf der Hund, dessen Kopf allein fast so groß ist wie der ganze Kater,
unvermittelt kehrt macht und das Weite sucht. Der jüngere Dalmatiner
hat die Geste des Katers nicht verstanden und geht auf ihn zu. Er schafft
es, bis auf Pfotenlänge an den Sessel heranzukommen. Wer nicht genau
in diesem Augenblick hingesehen hat, muss meinen, eine Hornisse hätte
den Hund in die Schnauze gestochen. Perseus hat ihm blitzschnell einen
Tatzenhieb auf die Nase verpasst, ohne seine Lage zu verändern. Jaulend
flieht der Angreifer vom Schauplatz. Als er außer Sichtweite ist, steigt
Perseus vom Sessel und die Familie setzt ihr Frühstück fort.
Die
Hotelterrasse ist nur ein Teil von Perseus Revier. Seinen Gesamtumfang
lerne ich auf meinen Spaziergängen über die verbrannten Wiesen der griechischen
Insel um zwei Uhr morgens nach und nach abzuschätzen. Hier sind die
Katzen nicht bloß in der Morgen- und Abenddämmerung aktiv. Sie können
sich nächtlichen Schlaf nicht leisten. Wenn die Hauptsaison vorbei ist,
beginnt die Zahl der Touristen von achttausend auf null zu schrumpfen
und mit ihnen das Nahrungsangebot. Ich sehe Perseus minutenweise halbwach
dösen, ich sehe ihn bei Tag großzügig das ihm zugedachte Futter an die
Clanmitglieder abtreten, sehe ihn aber auch auf Katze und Junge losgehen
und ihnen Demutsgesten abverlangen. Sobald alle ihre Demutsgebärden
gezeigt und ihn als Clanführer bestätigt haben, wälzt er sich auf dem
Rücken. Ich sehe ihn sogar einmal wie ein Katzenbaby mit dem eigenen
Schwanz spielen - für eine halbe Minute, mehr Zeit zum Nachholen seines
Welpenseins bleibt dem einjährigen Kater nicht.
Eine Woche später ist die Hauptsaison zu Ende. Perseus Großzügigkeit
lässt nach. Immer öfter besteht er auf einem Anteil des Frühstücksangebots
für sich. In den Nächten lässt der Flugzeuglärm nach und das Kampfgeschrei
der Reviergefechte nimmt zu. Ich begegne nachts unzähligen streunenden
Katzen, aber nur ihn erkenne ich wieder. An seiner Silhouette, seinem
Gang, seiner etwas größeren Schulterhöhe und seinem denkmalhaft gelassenen
Stillhalten.
Ob ich ihn wiedertreffen würde, wenn ich nächstes Jahr nochmals nach
Santorin fliegen wollte? Von den frei lebenden Tieren dort habe ich
nie eines gesehen, das ich älter als zwei Jahre einschätze. Tiere, die
jemand gehören, sind entweder in engen Käfigen untergebracht oder angebunden.
Das gilt für Hunde, Hühner, Tauben, Ziegen und Maultiere, deren Stricke
gerade bis zur Tränke reichen. Die Katzen waren alle herrenlos. Vielleicht
lassen sie sich nicht einsperren.
Üppiges Leben und gewaltsamer Tod sind auf dieser Vulkaninsel nahe beisammen.
Man findet hier die vitaminreichsten Früchte, die farbigsten Blumen
und von Erdbeben entvölkerte Geisterstädte neben- und ineinander. Die
Toten werden nicht erdbestattet, sondern an der Sonne getrocknet und
in Grüften beigesetzt, bis das nächste Beben sie verschlingt. Eine Sonneninsel.
Hitze bewahrt und Hitze verzehrt. Ich nehme die Erinnerung an einen
roten Tigerkater mit und halte mich an Zeus, der dem Helden Perseus
seiner Tapferkeit wegen ewiges Leben gewährt und den Göttern jede Rache
an ihm verwehrt hat.
Von:
Franz Blaha (NG de.rec.tiere.katzen)
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